Die Sprache ist anders gebaut als es die unbarmherzige Logik des Entweder-Oder hartnäckig einfordert. Sie ist ein merkwürdiges Gebilde aus Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, aus Überlappungen und Unschärferelationen. Das gilt auch für einen ganzen menschlichen Komplex, der durch Worte wie Mut und Feigheit, Angst und Courage beschrieben werden kann.
Der germanische Mut, der muod, bedeutet Entschlossenheit und Leidenschaft, während das Wort Courage sich von lat. cor, cordis bzw. vom französischen cœur, also vom Herzen ableitet, das womöglich klopft, wenn die Angst bei einer Entscheidung oder bei einem riskanten Satz sich meldet. Ein Mensch nimmt sich ein Herz und versetzt sich in den Zustand der Beherztheit, von dem sein Handeln bestimmt ist. Der Mut hingegen, dem etwas Ungestümes anhaftet, verweist nicht zuletzt auf den männlich-soldatischen Kampf, auch wenn sich der germanische Mut mit der romanischen Courage, die im 16. Jahrhundert in die deutsche Soldatensprache eingewandert ist, überlappen mag.
»Courage bedeutet, sich nicht vom Gegenwind mehrheitlicher Meinungen beeindrucken zu lassen.«
Anders als die Courage kennt der Mut scheinbar das mögliche Zuviel in Gestalt des Hoch- und des Übermuts aber auch das Zuwenig, das als Wehmut oder Demut in das grammatisch Weibliche konvertiert. Im Edelmut tritt wiederum das aristokratische Moment des Kampfes gegen Angst und Furcht zutage. Derlei Zusammensetzungen kennt die Courage nicht. Sie ist nicht edel, nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern einfach: Courage. Die Hochcourage oder die Decourage gibt es eben nicht. Allenfalls die Zivilcourage, die eigentlich eine Verdoppelung darstellt. Das Wort Zivilmut wäre vielleicht möglich, klingt aber seltsam und unstatthaft. Darin besteht der kleine Unterschied. Aber mit diesem ist ein entscheidender Schritt in die moderne offene Gesellschaft getan.
Den Kern der Courage macht nicht so sehr ein physisches Vermögen aus, das in vormodernen Kulturen zumeist dem Mann zugesprochen wird, jene Körperstärke, die mit dem Mut im Bunde ist. Courage zielt nicht auf eine bestimmte heroische Verfasstheit des Gemüts, sondern auf ein womöglich kontrolliertes Seelenvermögen, sich der eigenen Angst zu stellen, die potentielle Bereitschaft, sich für die Freiheit zu entscheiden, wenn es brenzlig wird, Geistesgegenwart und ein kluges Kalkül zu zeigen, mit dem eigenen Verhalten eine Situation zu verändern. Wer sich der eigenen Angst stellt, muss kein intellektueller Mensch sein, wie Brecht am Beispiel einer Marketenderin demonstriert, eben jener Mutter Courage, die der Schöpfer des Epischen Theaters den berufsbedingten Mutigen, den Soldaten, entgegenstellt.
Männer und Frauen wie Gandhi, Mandela, Havel, Selenskyi oder die Pussy Riots sind solche säkularen zivilheroischen Gestalten. Was sie bei allen kulturellen, nationalen, geschlechtlichen und auch charakterlichen Unterschieden verbindet, ist, dass sie ihre physische Verletzlichkeit nicht verstecken oder überspielen. Die Fragilität des Menschen ist nicht nur eine leibliche, sondern zugleich eine seelische und auch eine intellektuelle. Die Couragierten können und wollen ihre Muskeln nicht spielen lassen. Sie verkörpern eine Courage, die über den Mut auf ein Anderes hinausweist, auf eben jene Freiheit für etwas, die das transzendente Moment der modernen Demokratie bildet. Diese sanften Helden haben ihre historischen Auftritte in Situationen der Gefahr, in der Demokratie unterlaufen oder auch zerstört zu werden droht.
Was die Zivilcourage zum Risiko ausmacht, ist eine Asymmetrie im Geflecht der Macht. Tendenziell ist der Mensch doch auf sich allein gestellt, befindet er sich in einer Situation, die Courage erfordert. Er tritt jemandem gegenüber, der über entsprechende Machtmittel verfügt, die die eigenen Möglichkeiten übersteigt. Friedrich Hebbel hat die jüdisch-alttestamentarische Geschichte von Judith und dem Tyrannen Holofernes auf der Schwelle von Tradition und Moderne angesiedelt, indem er die psychische Ambivalenz ins Spiel bringt: Sie tötet den verachteten und begehrten Antipoden in der intimen Situation von Umarmung und Vereinigung, wobei die Motive der persönlichen Rache und der befreienden Tat für das Volk sich bei Hebbel auffällig überlagern. Hofmannsthal wiederum hat sich in seiner Arbeit am Mythos eines prominenten antiken Stoffes der Orestie angenommen. Darin wird die Blutrache an der eigenen Mutter, Klytaimnestra und ihrem zweiten Gatten, Aigisth vollzogen, aber auch, modern gesprochen, ein Unrechtsregime beseitigt. Auch diese Erzählung steht an der Schwelle zur Moderne, weil sie die Frage stellt, was eine mutige und was eine feige Tat bedeutet und welche Mittel angemessen sind, Unrecht zu sühnen und zu überwinden. Elektra und Judith, so mutig und unbeirrbar sie auch sein mögen, leben nicht in der Welt einer bürgerlich-zivilen Courage. Sie begegnen uns als mutige Gestalten eines fernen Horizonts, denn Gewalt und Rache gehören nicht in das Arsenal einer friedlich getönten Courage.
Zum Risiko, das der neuzeitliche Mut, die Courage, mit sich bringt, gehört nicht nur die Gegenfigur des mächtigen Herrschers, sondern auch die Stimmung in einer Polis bzw. einer modernen massenmedial gesteuerten Demokratie. Courage bedeutet, sich nicht vom Gegenwind mehrheitlicher Meinungen beeindrucken zu lassen. Dieser sozialen Eigenschaft bedarf es auch in Gesellschaften, die nicht militärisch verfasst sind, in denen weniger die Figur des Helden, sondern viel eher die des oft vorschnell als egoistisch verachteten Händlers und Verhandlers dominiert.
Die Courage in einer Gesellschaft, die sich als zivil und zivilisiert begreift, erfreut sich offenkundig hoher Wertschätzung. Sie ist eine notwendige Ingredienz für den Alltag einer liberalen und offenen Gesellschaftsordnung. Wichtig ist, dass sie sich zeigt. Zunächst im Nein. Eva, die umstrittene weibliche Figur der Schöpfung, ist mutig, ja couragiert, weil sie in einem frühen Akt einer Mutprobe verbotene Früchte von einem Baum pflückt und isst. In dieser häretischen Deutung hat Gott durch List den Menschen ein zweites Mal geschaffen, nämlich in Gestalt von Eva als ein Wesen, das sich mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert sieht: mit der Ausübung von Freiheit, die Bestrafung oder gar Verlust des eigenen Lebens nach sich ziehen kann. Pointiert formuliert schließt die moderne Courage – anders als der heroische Mut – die Frau und das Weibliche grundsätzlich ein.
Die Wertschätzung der Courage und der mit ihr verbundenen Freiheit, die der Möglichkeit des Neins bedarf, jedoch an entscheidender Stelle über die Negation hinausgeht und auf ein Für verweist, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie weit verbreitet ist. Courage, die Freiheit des Nein und des Ja für ein Anderes, ist beileibe nicht der Normalfall. Es fällt schwer, die eigenen handfesten Interessen hintanzustellen.
»Wer hat nicht schon oft bedauert, dass ihm oder ihr in einer Situation nicht gleich das passende Wort oder die angemessene Handlungsweise einfiel?«
Dass Courage unterbleibt, braucht nicht Feigheit zu entspringen, das kann durchaus Bequemlichkeit geschuldet sein. Wenn etwa bei einem internationalen Flug, sagen wir: der Vater aus einem fremden, nicht-europäischen Land seine noch ganz kleine, durch die Situation im Flugzeug verängstigte Tochter anbrüllt und körperlich bedroht, dann kann es passieren, dass die Mutter schamvoll schweigt und alle betreten wegschauen. Gedanken hängen dabei im Raum: Das ist doch die Angelegenheit des Bordpersonals, das ist eine andere Kultur, ich will mich da nicht einmischen und schon gar nicht will ich ein postkolonialer weißer Mann sein. Ein solcher Augenblick – das hilflos aggressive Agieren des Vaters und das darauffolgende betretene Schweigen – währt kurz und lange zugleich. Der Kairos, der richtige Augenblick, in dem sich Courage beweisen kann, ist schnell verpasst. Der Gegensatz zum Mut ist die Feigheit, die vor etwas davonläuft, das Gegenteil der Courage ist das Schweigen, das ein Hinnehmen ist. Courage bedarf im entscheidenden Augenblick gedanklicher Geistesgegenwart und des schnellen Schritts. Ein „ungeheures Anteilnehmen“, ein „Hinüberfließen“, ist ihr, um Hugo von Hofmannsthal zu zitieren, nicht fremd. Auch das erklärt, warum sie höchst selten einen Auftritt bekommt. Wer hat nicht schon oft bedauert, dass ihm oder ihr in einer Situation nicht gleich das passende Wort oder die angemessene Handlungsweise einfiel?
Courage kommt höchst selten vor und ist eine kostbare Ressource. Für eine offene liberale Gesellschaftsordnung ist sie unabdingbar. Selten ist sie, weil sie mit Risiko verbunden ist und weil sie unbequem ist. Dank der Bücher von Hartmut Rosa ist die Resonanz zu einem geflügelten Wort in der gesellschaftspolitischen Debatte geworden. Die Courage macht indes sichtbar, dass diese ohne Bereitschaft zur Dissonanz nicht möglich ist. Beide bedingen einander. Sie sind unbequem und dürfen nicht mit allzu viel Konsonanz rechnen.
Dieser Essay ist am 18.1.2025 in längerer Version im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“ erschienen.
Wolfgang Müller-Funk ist Kulturphilosoph und Literaturwissenschaftler und begleitet das Wissenschaftsprogramm der Wortwiege.
Zuletzt erschien: „Crudelitas. Zwölf Kapitel einer Diskursgeschichte der Grausamkeit“ (2022)