Alles Gerettet!
Ein österreichisches Panoptikum

Im Gespräch. Peter Roessler über Qualtinger und Merz, Mut-Darsteller:innen und menschliches Verhalten.

ZUSAMMENGESTELLT VON MARIE-THERESE HANDLE-PFEIFFER

Am 8. Dezember 1881 ereignet sich einer der größten Unglücksfälle der Monarchie: Der Ringtheaterbrand kostet offiziell 384, inoffiziell weit mehr Menschen das Leben. 1882 steht „ganz Wien“ vor Gericht, als Angeklagte:r oder Zeug:in. Ein berührendes, menschliches Welttheater entsteht, das versucht, Ursachen zu finden und die Wahrheit ans Licht zu bringen.

»Courage ist keine feststehende Eigenschaft, sie kann Wichtiges bewirken, aber auch brüchig werden, verschwinden oder sogar zu problematischen Ergebnissen führen. Mut wiederum kann mit Widerstandshandlungen verbunden sein, aber auch durch bloße Heldenposen simuliert werden, denn: Wer sieht sich nicht selbst gerne irgendwie als mutig an?«

Du hast die Wortwiege auf das Stück aufmerksam gemacht. Wie bist du dazu gekommen?

Peter Roessler: Durch Lektüre, Carl Merz und Helmut Qualtinger sind für mich wichtige Autoren. „Der Herr Karl“, „Alles gerettet“ oder „Die Hinrichtung“ lassen sich vor allem als bedeutende Dramatik ansehen. Auch wenn manches ursprünglich fürs Fernsehen geschrieben wurde und „Der Herr Karl“ von der phantastischen Darstellung durch Helmut Qualtinger nicht zu trennen ist, sind dies doch allesamt singuläre Dramen, für die man in ihrer Zeit und bis heute kaum Ähnliches findet.

Aber es gibt vielfältige Zusammenhänge, in denen sich das Schreiben von Merz und Qualtinger bewegt: Für Qualtinger war etwa Ödön von Horváth bedeutsam, er selbst spielte den Oskar in der Verfilmung von „Geschichten aus dem Wienerwald“ durch Erich Neuberg. Außerdem waren für den Schauspieler und Schriftsteller Qualtinger die Autoren Karl Kraus und Jura Soyfer zentral. Eindrucksvoll hat er – auch für eine Fernsehaufzeichnung – aus den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Kraus gelesen. Dabei hat er die unzähligen Personen dieses riesigen Dramas mit seiner einzigartigen Sprechkunst ebenso anschaulich wie durchsichtig werden lassen. Mit dem Werk Soyfers ist Qualtinger bereits früh in Kontakt gekommen, er hat schon in den ersten Nachkriegsjahren auf dessen ästhetisch-politischen Rang hingewiesen und dabei wiederum Zusammenhänge benannt – mit Raimund und Nestroy etwa. Später hat er Soyfers Romanfragment „So starb eine Partei“ in seinen Lesungen präsentiert und überhaupt zur Wiederentdeckung von Soyfer beigetragen.

Carl Merz war gleichfalls von Karl Kraus geprägt, den er noch bei dessen großen öffentlichen Vortragsabenden erlebt hat. Auch hat Merz als Schauspieler und Autor im Wiener politisch-literarischen Kabarett der 1930er Jahre gewirkt, in dem neben Kabarett-Nummern kleine Stücke  – „Mittelstücke“ – aufgeführt wurden, die sich kritisch mit der Gesellschaft auseinandergesetzt haben. Dabei ist er im Rahmen der Kleinkunstbühne ABC in der Rolle des Christoph Kolumbus in Soyfers „Broadway-Melodie 1492“ aufgetreten.

Die Dramatiker Merz und Qualtinger sind aber nicht bloße Nachfolger der genannten Autoren. Das alles fließt vielmehr bei ihnen zusammen und hat die Besonderheit ihrer Dramen befördert. Der Regisseur der Verfilmung von „Alles gerettet“, Erich Neuberg, der ebenso den „Herrn Karl“ und „Die Hinrichtung“ verfilmt hat, gehörte übrigens – wie Qualtinger zum Teil auch – der studentischen Theatervereinigung  „Studio der Hochschulen“ sowie den Wiener Kellertheatern der Nachkriegszeit an, wo Horváth und Soyfer gespielt wurden.  

Der Film „Alles gerettet“ war zwar hochkarätig besetzt, wurde aber nicht oft ausgestrahlt. Auch das Stück wurde kaum gespielt. Woran könnte das liegen?

Peter Rössler: Es gibt für solche Phänomene des Verschwindens oder Vergessens niemals nur einen Grund. Mechanismen des Fernsehbetriebs, Ignoranz, Fixierung auf Immergleiches oder das Streben nach einer Chimäre von Aktualität, das alles und noch viel mehr mag hier seine Auswirkung haben. Interessant könnte ein Aspekt sein, der mit der Substanz des Werkes zu tun hat: Dieses Stück zeigt ein menschliches Verhalten, das, wenn man es streng untersucht, gerade in seiner scheinbaren Normalität doch als ungeheuerlich bezeichnet werden kann. Wie in einem Zerrspiegel wird die in Harmlosigkeit und Anständigkeit gekleidete Verantwortungslosigkeit durch das außerordentliche Ereignis der Brandkatastrophe entlarvt. Das kann sicher eine gewisse Distanz, eine Irritation beim Publikum erzeugen. Obwohl die Personen nicht direkt mit uns identisch sind, da sie ja aus einer fernen Vergangenheit kommen, verweisen sie unbedingt auf Mentalitäten der Gegenwart – auch und gerade in Milieus, die sich über die Figuren erhaben fühlen mögen

„Alles gerettet“ ist das einzige Stück, für das Qualtinger und Merz einen historischen Stoff aufgreifen und in ihre Zeit hinüberziehen. Warum genau der Stoff?

Peter Rössler: Der Ringtheaterbrand bildete, so merkwürdig das klingt, einen gewissen Mythos in Wien. Er war mit dem Bild der Naturkatastrophe behaftet und diente zugleich der beruhigenden Sentenz, dass man doch so viel daraus gelernt habe. „Schrecklich, aber seit damals ist die Brandordnung verbessert worden.“ Auf dieser Ebene von feuerpolizeilichen Verordnungen stimmt das auch – alles wurde zwar nicht gerettet, aber alles ist jetzt besser, so die Lehre. Doch ist das menschliche Verhalten, das im Stück so drastisch gezeigt wird, in dieser Betrachtung der Geschichte im Dunkeln geblieben, und die beiden Autoren haben es ans Licht geholt.

Dass sie einen historischen Stoff wählten, ist zunächst ungewöhnlich für sie sowie für die österreichische Dramatik der jüngeren Vergangenheit überhaupt. Es ließe sich jedoch, etwas frei formuliert, von einem dokumentarischen Zugang sprechen. Den gibt es bekanntlich auch bei Karl Kraus, der in seinen „Letzten Tagen der Menschheit“ Zeitungen, Proklamationen, Reden zitiert hat. In anderer Weise findet sich das Dokumentarische, wenngleich ebenfalls vom Autor nicht so bezeichnet, bei Horváth, der Sätze aus Gesprächen, die er erlauschen konnte, aufgeschrieben und in seine Stücke integriert hat. Etwas aus der Realität zu nehmen, besonders Sprachliches, interessierte Merz und Qualtinger, wobei dann das Geschichtliche mit gegenwärtigen Erfahrungen zusammenkommt.

Der Text besteht zu rund 40% aus Originalzitaten aus den Prozessakten. Hatten sie Zugriff auf die Akten?

Peter Rössler: Es gab zwei Bücher dazu, die 1881/82, also kurz nach dem Brand, erschienen sind. Darin finden sich Quellen, Erzählungen von Augenzeugen, Zeitungsberichte – und stenografische Mitschriften des Prozesses, die für Merz und Qualtinger zur Grundlage ihres Stückes wurden.

Das Personal dieses Stücks ist mit 30  Figuren ungewöhnlich groß. Warum braucht es so eine große Besetzung?

Peter Rössler: Merz und Qualtinger hätten auch einen Sketch im historischen Gewand mit 2–3 Personen schreiben können, nach dem ewig gültigen Motto: „Was hätten wir denn tun sollen?“ Stattdessen haben sie ein riesiges aktuell-historisches Panorama geschaffen, dramatisch und episch zugleich, was zur verborgenen Modernität des Werkes gehört. Dieses Panorama ist auch ein Panoptikum der Sich-Rechtfertigenden, aber nicht nur das. Denn wir hören ebenso die erschütternden Berichte von Betroffenen, die ihre Angehörigen verloren haben.

Es gibt eine Spannung zwischen der Masse an Figuren und der Verantwortung der Einzelnen. Auf letztere kommt es tatsächlich an. Inmitten einer homogen wirkenden Verantwortungslosigkeit kann man durchaus anders handeln. Dieses Stück wirkt ohne konventionelle dramatische Konflikte, und doch gibt es die unzähligen Konflikte, die in den einen Konflikt der Verantwortung münden. Das Thema wird dann wiederum aus der Vereinzelung geholt und durch die Dimensionen des Stücks vergrößert, es ist nicht ein Einzelner, der uns merkwürdig vorkommt, sondern wir erschrecken und wundern uns über das Ganze, das aus den Einzelnen besteht. Zum Großen gehört der Gerichtsprozess, der etwas aufdeckt und zugleich ein Abbild der ganzen Gesellschaft ist, in der so viel verdeckt bleibt.

»Dieses Stück zeigt ein menschliches Verhalten, das, wenn man es streng untersucht, gerade in seiner scheinbaren Normalität doch als ungeheuerlich bezeichnet werden kann.«

Also eine ganze Gesellschaft…

Peter Rössler: Die Gesellschaftskritik geht dabei sehr weit, ohne dass die Autoren dies direkt verkünden müssen. Sie reicht bis zur Frage der Gerichtsurteile. Leute, die „es sich richten“ können und die sozial höhergestellt sind, kommen in den meisten Fällen ganz gut weg. Und das erzählt nicht nur etwas über die damalige Justiz, sondern über eine gesamte Gesellschaft.

Die Figur des Richters, immerhin der Präsident des Gerichtshofs, ist nach unserem Verständnis wirklich an der Aufdeckung dessen, was da passiert ist, interessiert. Am Ende fällt er aber sehr milde Urteile. Was steht dahinter?

Peter Rössler: So wie er die Verhandlung führt, ist er tatsächlich ehrlich bemüht. Er spricht als dramatische Figur manchmal geradezu für uns, die wir wissen wollen, wie es war. Und das legt zugleich die Konstruktion frei: Da ist jemand, der lautere Absichten hat, der sich durchaus seinen Ansprüchen folgend verhält. Aber dann kommt wieder das große Panorama, denn er ist auch Teil eines Systems, an das er sich hält. Es gibt dabei ein verallgemeinerbares Spannungsverhältnis, dass nämlich die Einzelnen, selbst wenn sie Verantwortung empfinden, zugleich in ein Gefüge eingebettet sind, das sie in bestimmte Richtungen zieht.

Am Ende ist der:die Einzelne ja auch immer in einem familiären sozialen Gefüge, für das man Verantwortung trägt.

Peter Rössler: Für den eigenen kleinen Bereich zu sorgen, lässt sich natürlich als Verantwortung sehen und sie ist es in dieser abgegrenzten Weise auch real. Hier die Existenz zu schützen, kann zum wesentlichen Motiv des Handelns werden. Dabei entlastet in einem anderen Sinn gerade das Bewusstsein von Partikularität: Man lebt im Kleinen und hat auch seine kleinen, vom Großen scheinbar abgetrennten Aufgaben, die man gehorchend ausführt und über die man nicht so sehr nachdenkt. Ein bisschen Pflicht, ein bisschen Schlamperei gehört dazu. Das hat man immer so gemacht, die Instruktion war so. Dies verleiht den Einzelnen sogar eine scheinbare moralische Legitimität, sie tun das, was alle tun, was es auch sei.

Wenngleich wir mit der Brandkatastrophe einen speziellen Stoff haben, lassen sich solche Themen auch mit den Erfahrungen der Verbrechen des Nationalsozialismus in Verbindung bringen. In ihm haben die vielen apologetischen Einzelnen ja ihrem Verständnis und ihrer Rechtfertigung nach das erfüllt, was von ihnen zu tun oder nicht zu tun war. Überhaupt ist Wesentliches im Werk von Merz und Qualtinger aus ihrer Abscheu gegenüber dem NS-Regime her zu verstehen.

Courage ist eine Gratwanderung, besonders in diesem Stück. Man kann auf die eine und auf die andere Seite kippen, in jedem Moment. Was denkst du darüber?

Peter Rössler: Was bedeutet Courage? Was bedeutet Mut? Über solche Worte lässt sich stets nachdenken. Hier gäbe es noch andere Begriffe, der Definition entziehen sich alle, es kommt auf die Situation an, sie verändert sich mit ihr. Courage ist keine feststehende Eigenschaft, sie kann Wichtiges bewirken, aber auch brüchig werden, verschwinden oder sogar zu problematischen Ergebnissen führen. Mut wiederum kann mit Widerstandshandlungen verbunden sein, aber auch durch bloße Heldenposen simuliert werden, denn: Wer sieht sich nicht selbst gerne irgendwie als mutig an?

Es gibt – etwa im Kulturbereich, auch in Wien – derzeit häufig den Typus des Mut-Darstellers oder der Mut-Darstellerin, vorzugsweise in gehobenen Positionen. Diese verwirklichen sich sogar gerne in einem Sujet, das mit dem „Dokumentarischen“ bezeichnet wird. Der Typus demonstriert dann im passenden dramaturgischen Ambiente seinen leicht zu habenden Mut, der oft nur lärmende Anpassung ist. Da ändern auch groß arrangierte Prozess-Events nichts, wo Mut-Reden extemporiert und eine Wahrheitssuche simuliert wird.

Jenseits davon existiert eine rare Dramatik, in der es differenziert um Anpassung und Opportunismus geht. In Václav Havels Einakter „Audienz“ – der ja im Rahmen des Wortwiege Festivals gespielt wurde – sagt und tut der Protagonist Vaněk einfach das, was er für richtig hält, ohne an seinen Vorteil zu denken. Er nimmt viel in Kauf, würde sich selbst aber gar nicht als mutig bezeichnen. Das Wort „Courage“ ist in der Theatergeschichte besonders mit einem Stück verbunden: In Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“, das im Dreißigjährigen Krieg spielt, hat die Marketenderin Anna Fierling durchaus Courage. Damit versucht sie zwar, ihre Kinder zu schützen, vor allem aber möchte sie ihre Geschäfte mit dem Krieg machen, was ihr übergeordneter Gesichtspunkt bleibt. Diese Courage der Marketenderin ist mit enormer Anpassung verbunden, was teilweise sogar die Existenz sichert, aber letztlich in persönliche Katastrophen führt.

In „Alles gerettet“ gibt es Leute, die versuchen, Menschen zu retten. Das sind keine Mut-Darsteller und -Darstellerinnen, sondern sie tun in einer Situation das Richtige. Dies lässt uns über Courage und Mut nachdenken.

Kabarett und Humor altern sehr schnell, aber dieses Stück nicht. Warum ist es so aktuell?

Peter Rössler: Kabarett hat trotz vielfältiger Möglichkeiten tatsächlich seine eigenen Fährnisse, denen auch Merz und Qualtinger in ihrer Kabarett-Tätigkeit nicht entgangen sind. Dazu gehören harmlose Blödeleien, das Haften an tagesaktuellen Erscheinungen, Witze, die kritisch wirken, aber den Blick auf Zusammenhänge verstellen. Die großen Stücke von Merz und Qualtinger hingegen, die das Kabarett enthalten und zugleich die Problematiken des Genres überwunden haben, sind keineswegs harmlos. Das bleibt bis heute in unterschiedlichen Konstellationen bestehen oder verstärkt sich sogar. Die satirische Methode lässt uns hier lachen und weinen, sie ist zugleich mit anderen direkt ins Ernste und Traurige gehenden Gestaltungsformen verwoben. Ernst und Witz kommen auf vielfältige Weise zusammen und durchdringen einander.

Merz und Qualtinger beziehen sich auf spezielle Situationen und zielen zugleich ins Allgemeine. Dabei haben sie dargestellt, was ihnen vom Milieu her bekannt und nahe war. Die wienerische Thematik – es sind natürlich spezielle Typen aus Wien – erweist sich als universell. Es ist eine Art Welttheater das hier geboten wird, ohne Prätention darauf, aber schonungslos in der Gestaltung dessen, was uns alle und überall angeht.

Peter Roessler ist Professor für Dramaturgie am Max Reinhardt Seminar sowie Autor zahlreicher Publikationen, u.a. zu Exil- und Nachkriegstheater sowie zeitgenössischem Theater.